Berlin. Wortbruch? Lüge? CDU-Chef Merz wirbt bei den Grünen für seine Schuldenpolitik – und schwankt zwischen Charmeoffensive und Wutanfall.
Es ist 12.43 Uhr, als Friedrich Merz ans Rednerpult tritt. Er legt den Finger gleich auf seinen Schmerzpunkt: Lüge, Wahlbetrug, Verrat. Das schallt dem CDU-Mann im Moment überall im Land entgegen, seit er sich vom strikten Schuldengegner zum historischen Schuldenmacher gewandelt hat. Merz will jetzt drei Sachen gleichzeitig: bei den Grünen um Zustimmung für seine Schuldenpolitik werben, den Staatsmann geben – und seinen Ruf retten. Sein größter Gegner dabei sind mal wieder die eigenen Reflexe.
Merz macht, was er ungern tut, er zitiert sich selbst: Er habe bereits im letzten Herbst gesagt, dass eine Reform der Schuldenbremse nicht ausgeschlossen sei. Das Zitat von damals stimmt, aber es blieb ein einzelner leiser Satz, der schnell vergessen werden sollte. Erst jetzt, da Merz Bundeskanzler werden will und Geld braucht, sagt er den Satz wieder laut. Mehr noch: Er geht auf die Grünen zu, Union und SPD bieten Änderungen beim Schuldenpaket an, mehr Klimaschutz zum Beispiel.
Merz zwischen Charmeoffensive und Wutausbruch
Doch die Grünen beeindruckt das bislang wenig: „Es ist Ihr Politikprinzip, nicht ehrlich zu sein“, antwortet Grünen-Verhandlerin Katharina Dröge direkt auf Merz. „Wir verlassen uns nicht auf Ihr Wort.“ Ob es am Ende zu einer Einigung kommt, ist noch lange nicht sicher. Merz ahnt das und schwankt an diesem Morgen zwischen Charmeoffensive und Wutausbruch. „Was wollen Sie eigentlich noch mehr?“, poltert er los – um dann wieder einzulenken: „Wir können noch Änderungen vornehmen.“
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Die Szene zeigt es eindrücklich: Merz muss im Kopf umparken – vom Oppositionsführer und Wahlkämpfer zum Staatsmann und Chefdiplomaten. Der Rollenwechsel ist eine Merz-Wende mit Ankündigung, es war klar, dass sie nach der Wahl kommen würde. Von den fünf letzten 180-Grad-Kurswechseln lässt sich das nicht sagen.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Merz, der Machtpragmatiker – das ist die freundliche Beschreibung. Merz, der Wortbrüchige, der Wendehals – so sehen das seine Kritiker. Fünfmal hat Merz in den vergangenen Wochen gezeigt, dass er auf dem Absatz kehrt macht, wenn die Lage es aus seiner Sicht nötig macht.
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Mit dem Asylmanöver („All In“) fing es an: Merz wollte keine zufälligen Mehrheiten mit der AfD – und nimmt dann kaltschnäuzig AfD-Stimmen in Kauf. Merz wollte keine neuen Schulden in Höhe von mehreren Hunderten Milliarden – und schlägt dann ein 500-Milliarden-Sondervermögen vor. Merz wollte die Schuldenbremse möglicherweise eines Tages zugunsten der Länder ein wenig reformieren – und will jetzt eine sofortige Grundsatzreform, um die steigenden Verteidigungsausgaben („What ever it takes“) zu finanzieren. Merz wollte die Ausweitung der Mütterrente nicht, er hielt das für ein nicht finanzierbares Wahlversprechen der CSU – und knickt jetzt ein. Und schließlich: Merz tritt den Grünen im Wahlkampf immer wieder mit Karacho vors Schienbein – und muss jetzt zusehen, wie er das wieder repariert bekommt.

In den Ländern, vor allem dort, wo CDU und Grüne relativ harmonisch miteinander reagieren, fanden Merz‘ Parteifreunde das Grünen-Bashing immer schon maximal unklug. Aber warum hat Merz nicht wenigstens jetzt, wo er wusste, dass ohne die Grünen keine Mehrheit für sein Schuldenpaket zustande kommen kann, verhindert, dass alles noch mal eskaliert? Warum hat er Markus Söder nicht gebremst, bevor der beim politischen Aschermittwoch einfach die alte Platte wieder aufgelegt hat? „Dafür bezahlen wir jetzt einen Preis“, sagt einer, der sich sehr geärgert hat. Merz müsse jetzt dringend abrüsten, sich demütig zeigen, Brücken bauen. Und vielleicht mal auf die hören, die schon länger mit den Grünen regieren und wissen, wo deren Schmerzpunkte liegen. Nicht nur in der aktuellen Lage – auch in den kommenden Jahren braucht Merz die Grünen, wenn eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig werden sollte.
Die nächste Merz-Wende zeichnet sich schon ab
Wie tief die Verletzung ist, zeigte sich am Donnerstag im Parlament: Die Grünen sind empört, wie Merz mit ihnen umgeht. Erst prügeln, dann wie selbstverständlich an die staatspolitische Verantwortung appellieren? So nicht, Herr Merz, ist die Botschaft an diesem Tag. Im Hintergrund halten sich viele an der Hoffnung fest, dass es in den kommenden Tagen noch gelingt, einen Kompromiss zu finden, der Union, SPD und Grüne zusammenbringt.
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Einer, der sehr gute Drähte zu den Grünen hat und vier Jahre lang im größten deutschen Bundesland regiert hat, ist Armin Laschet. Der ehemalige Ministerpräsident von NRW hat großes Verständnis für den Kursschwenk bei der Öffnung der Schuldenbremse für die Verteidigungsausgaben. Die Zeiten seien so, dass man reagieren müsse. Merz‘ Fehler: Dass die Wende so abrupt nach der Wahl kam, dass es aussah wie ein gebrochenes Versprechen, wie eine Irreführung der Wähler, nicht wie eine Anpassung an eine verschärfte Lage. Merz, sagt Laschet im Podcast mit dieser Redaktion, hätte schon früher etwas „lauter andeuten müssen, dass man auf jeden Fall Veränderungen braucht“. Am Morgen im Parlament klingt es fast so, als habe Merz genau daran gedacht, als er den alten Satz vom Herbst 2024 wieder herauskramte.
Die nächste Merz-Wende zeichnet sich unterdessen schon ab: Sollte seine Regierung in den kommenden Jahren eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament brauchen, wird Merz auch die Stimmen der Linken brauchen. Bislang gibt es kaum Drähte zwischen Merz und den Linken. Merz wird sich auch hier bewegen müssen.